Donnerstag, 14. Juni 2007

Sonderbedarf

Nach § 1610 Abs. 2 Satz 1 BGB umfasst der Unterhaltsbedarf den "gesamten Lebensbedarf". Dieser setzt sich zusammen aus laufendem Bedarf (Wohnkosten, Ernährung, Kleidung, Krankenversicherung, Berufsausbildung etc.) und dem Sonderbedarf. Diesen definiert das Gesetz in § 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB als unregelmäßigen außergewöhnlich hohen Bedarf, der dem Unterhaltspflichtigen innerhalb eines Jahres nach seiner Entstehung gegenüber gerichtlich geltend gemacht werden muss, es sei denn, der Unterhaltspflichtige ist bezüglich des Anspruchs innerhalb der Jahresfrist wirksam in Verzug gesetzt worden. In diesem Fall setzt die regelmäßige Verjährungsfrist des § 197 Abs. 2 BGB für Unterhaltsansprüche (drei Jahre) ein.

Die unterhaltsrechtliche Abgrenzung zwischen laufendem und Sonderbedarf hat, wiewohl die §§ 1610, 1613 BGB im Kindesunterhalt (Verwandtenunterhalt) angesiedelt sind, Bedeutung für alle Unterhaltsrechtsverhältnisse, da die §§ 1360 a Abs. 3, 1361 Abs. 4, 1585 b Abs. 1 BGB auf die Vorschriften verweisen, die deshalb als allgemeiner Rechtsgedanke des Unterhaltsrechts zu verstehen sind1: Laufender Bedarf kann für zurückliegende Zeiträume nur ab Inverzugsetzung geltend gemacht werden, Sonderbedarf auch ohne Inverzugsetzung innerhalb eines Jahres nach Entstehung des Sonderbedarfs ohne vorherige Mahnung des Unterhaltspflichtigen.

Damit rückt aus Sicht des Praktikers die Frage des Sonderbedarfs insoweit ins Blickfeld, als die Befriedigung des Sonderbedarfs ja verfahrenstechnisch außerhalb der strengen Regelungen des Abänderungsverfahrens erfolgen kann. Der Sonderbedarf kann also deutlich flexibler und einfacher geltend gemacht, weshalb er dem Unterhaltsberechtigten ein willkommenes Instrument zur allfälligen Anpassung des Unterhalts an den jeweiligen Bedarf sein könnte. Doch Vorsicht ist geboten. Sonderbedarf liegt nur wegen eines unregelmäßigen, außergewöhnlich hohen Bedarfs des Berechtigten vor. Regelmäßiger außergewöhnlich hoher Bedarf des Berechtigten ist unterhaltsrechtlicher Mehrbedarf und daher als laufender Unterhalt ggf. als Zuschlag zu dem meist quotal bestimmten Unterhaltsbedarf des Berechtigten einzuklagen (trennungs-, ausbildungsbedingter Mehrbedarf). Ändert sich der regelmäßig auftretende Mehrbedarf, ist dieser wie die laufende Unterhaltsrente rückwirkend nur ab Verzug des Unterhaltsschuldners und ggf. mit der Abänderungsklage geltend zu machen. Die Abgrenzung von Sonder- und Mehrbedarf ist daher wichtig. Sie wird in der Praxis nicht immer sauber vollzogen. So stellt sich z.B. ein besonders kostenintensiver Klavierunterricht für ein hoffnungsvolles Jungtalent mit Ambitionen zum Berufsmusiker als ggf. zu finanzierender laufender Mehrbedarf dar, während dessen plötzlich sich ergebende Möglichkeit, an einem Meisterkurs in Prag teilzunehmen, Sonderbedarf ist, der (Leistungsfähigkeit unterstellt) vom Unterhaltspflichtigen zu finanzieren ist.

Was Mehr- und was Sonderbedarf ist, ist nicht immer leicht abgrenzbar. Sonderbedarf muss "unregelmäßig" und daher überraschend auftreten2, so dass Rücklagen aus laufenden Unterhaltsleistungen nicht gebildet und eingesetzt werden können. Was aber ist mit teilweise sehr teuren Schulfahrten und was, wenn eine kieferorthopädische Behandlung sich über Jahre erstreckt, deren (in Zukunft wachsender) Eigenanteil über die gesamte Behandlungsdauer in Raten zu erbringen ist? Die Sonderbedarfskasuistik zu den einzelnen Fragen ist vielfältig.

Juristisches Fingerspitzengefühl ist bei der Frage der Zuordnung eines Bedarfs als Sonder- oder Mehrbedarf gefragt. Dies gilt ganz besonders auch deshalb, weil im Bereich des Minderjährigenunterhalts von dieser Einordnung auch abhängt, ob der Bedarf ausschließlich vom barunterhaltspflichtigen Elternteil zu befriedigen ist, oder ob auch der Elternteil zur Deckung des Sonderbedarfs herangezogen werden kann, der die elterliche Sorge über das Kind ausübt, bei dem sich das Kind also aufhält. § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB, wonach der sorgende Elternteil nicht barunterhaltspflichtig ist, gilt für Sonderbedarf nicht. Bei Geltendmachung von Sonderbedarf ist daher stets zu prüfen, ob ggf. der sorgeausübende Elternteil zur Finanzierung des Sonderbedarfs mit heranzuziehen ist3.

Auch wann ein Bedarf "außergewöhnlich hoch" ist, um als Sonderbedarf qualifiziert zu werden, ist nur im konkreten Einzelfall zu entscheiden. Generell wird man sagen können, dass je niedriger der laufende Unterhalt ist, umso eher eine außergewöhnliche Höhe des Sonderbedarfs anzunehmen ist. Bis zur Einkommensstufe 6 werden daher beim Kindesunterhalt an die außergewöhnliche Höhe des Bedarfs keine allzu hohen Anforderungen zu stellen sein, markiert doch die Grenze von 135% des Regelbetrags auch gleichzeitig den notwendigen Bedarf des Kindes. Unterhalb dieses Bedarfs muss man davon ausgehen, dass der gesamte Barunterhalt des Kindes für laufende Bedürfnisse verwendet wird. Oberhalb der Einkommensstufe 6 können Rücklagen für Sonderbedarf gebildet werden, die im Fall seines Auftretens aufzulösen wären4. Eine feste Grenze zur Bestimmung der Höhe des Sonderbedarfs wird man wohl nicht aufstellen können5.

Sonderbedarf ist daher stets sehr konkret zu begründen und zwar bezüglich der Höhe, der Unplanbarkeit seines Entstehens und der Unzumutbarkeit der Finanzierung aus der laufenden Unterhaltsrente.

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